Jürgen Karthe - Vom Erzgebirge nach Buenos Aires (Tangodanza, im Heft Juli/August/September 2011) |
Wer Jürgen Karthe zum ersten Mal privat begegnet, könnte dem Irrtum erliegen, er wäre ein gemütlicher Typ. Ich begegnete ihm zum ersten Mal bei einer Ausstellungseröffnung Ende der achtziger Jahre in Freiberg am Fuße des Erzgebirges. Damals spielte er noch Akkordeon und es war weder daran zu denken, dass er einmal zu einem der bedeutendsten Bandoneonspieler der deutschen Tangoszene werden würde, noch dass wir uns auf diesem Weg, wenn auch mit Pausen, immer wieder treffen würden. Vor unserer zweiten Begegnung hatte ich gerade mit tanzen begonnen und war alles andere als sicher - und er ermutigte mich. Dann trafen wir uns auf den verschiedensten Ebenen: Jürgen Karthe als DJ, ich als Tänzer, Jürgen Karthe als Musiker, ich als Veranstalter. Und Zuhörer. Schließlich die Ebene als Gesprächspartner, natürlich zuerst Gespräche über den Tango, dann Gespräche über den kleinen Rest, den das Leben sonst noch bereithält. Was daraus entstanden ist, würde ich zuerst mit dem Wort Respekt bezeichnen. Respekt, den Jürgen Karthe selbst Anderen entgegenbringt, der nur aus einer inneren Klarheit und einer guten Professionalität, einem sicheren Gefühl für Leistung entsteht. Als Neunjähriger begann Jürgen Karthe, Akkordeon zu spielen. Nach einer technischen Berufsausbildung und abgebrochenem Kultur-Studium machte er sein Hobby zum Beruf und wurde Musiker. An den Landesbühnen Sachsen komponierte und musizierte er in fünf Inszenierungen mit, u. a. in Brechts Puntila. 1994 begann er, nach einem Vorleben in der Folkloreszene, Bandoneon zu spielen und gründete die Band Andorinha. Mit diesem Sextett spielte er zwölf Jahre lang Tango und feierte große Erfolge. Er reiste zu den bedeutenden Festivals in Venedig, Turin, Moskau, Paris und natürlich spielte er fast überall in Deutschland. Die heute recht große Dresdner Tangoszene wäre ohne seine Impulse und seine kontinuierliche Arbeit nicht denkbar. Immer wieder spielte und spielt er in anderen Projekten, in der Inszenierung der Semperoper die Tango-Oper Porque, Porque, die jahrelang erfolgreich in Dresden und anderen Städten lief, mit den Münchner Symphonikern, mit Fabian Klentzke als Tango Amoratado, mit den Los Muchachos Paraguayos südamerikanische Folklore. Oder er spielt Tubatango mit dem Trio Enfierrado, mit dem er zu den Wurzeln des Tango zurückkehrt. Wer ein Gefühl für die Ursprünge des Tangos entwickeln möchte, sollte einmal im Sommer auf einer Freilufttanzfläche zur Musik dieser Band tanzen. Die Geschichte der Musik und des Instruments interessierte Jürgen Karthe immer mindestens so sehr wie der Tango selbst. 1997 reiste er für eine Fernsehproduktion zur Geschichte des Bandoneons zum ersten Mal nach Buenos Aires. Seit Jahren nutzt er seine weitgespannten Kontakte zu Musikern, Instrumentenbauern und den Nachfahren der Familie Arnold, um alle verfügbaren Informationen zur Entwicklung des Bandoneons und des Tango zusammenzutragen und aufzubereiten. Zurzeit arbeitet er an einer kleinen Dokumentation, um die Ergebnisse seiner Recherchen auch anderen zugänglich zu machen. Seit 2007 tritt Jürgen Karthe mit dem Cuarteto Bando und inzwischen auch mit dem argentinischen Sänger Caio Rodriguez auf. In diesem Sommer werden sie ihre langersehnte erste gemeinsame CD aufnehmen, insgesamt die sechste, denn fünf spielte er bereits mit Andorinha, dem Tango Amoratado und Cuarteto Bando ein. Und er arbeitet an einem Großprojekt: zwölf Bandoneons, zwölf Geigen und - wer weiß - womöglich zwölf Flügel (kleiner Scherz) in einer Band. In diesem Großorchester kommen auch seine langerprobten pädagogischen Fähigkeiten zum tragen, hier wirken unter anderem Musiker mit, die sonst keinen Tango spielen. Premiere wird am 30.9. 2011 im Alten Kranwerk in Naunhof bei Leipzig sein. Fasziniert von dem Klang und den Möglichkeiten des Bandoneons folgte Jürgen Karthe mit seinem Weg dem Weg des Bandoneons. Dieser Weg begann bei dem Musiker wie dem Instrument im Erzgebirge und führte bis nach Buenos Aires. Zuerst studierte er ein halbes Jahr am Musikkonservatorium in Rotterdam. Er lernte bei bekannten Maestros aus Argentinien und Uruguay wie Marino Rivero, Nestor Vaz und Nestor Marconi. Sein eigenes Spiel orientiert sich an Anibal Troilo und Ciriaco Ortiz. Jürgen Karthe erstrebt nicht die bloße technische Perfektion, sondern eben das Besondere des Tango, die Kraft der Straße, den Wechsel von Leidenschaft und Gelassenheit. Tatsächlich ist er alles andere als ein Akademiker. Ihn spielen zu hören und zu sehen ist ein Erlebnis. Ihm beim Spielen zuzusehen war mir immer genau so wichtig, wie ihn zu hören. Wer Jürgen Karthe beim Spielen zuhört und zusieht, käme nie auf die Idee, er wäre ein gemütlicher Typ. |
Abriendo y Cerrado - 10 Jahre Tangoorchester Leipzig (Tangodanza, im Heft Juli/August/September 2012) |
Was für eine Aufgabe: Über ein Tango-Orchester schreiben, dass ich gar nicht kenne, obwohl es eigentlich gleich um die Ecke lebt und spielt. Vom der globalen Sichtweise zumindest ist ja Leipzig wirklich nicht weit von Dresden entfernt, aber im Konkreten liegen die Dinge oft anders als sie scheinen. Das ist ein guter Grund, zu den 12. Tangotagen nach Leipzig zu fahren! Also schnell einige Informationen eingeholt, damit ich erst mal meine Wissenslücken schließe: Die Besetzung des Orchesters liest sich abenteuerlich. Zwei Pianistinnen, vier Violinen, zwei Celli, eine Klarinette, Flöte, Kontrabass, drei Bajans… Und schon sind meine nächsten Wissenslücken offenbar: Was sind denn Bajans und was haben Bajans mit Tango zu tun? Die erste Frage lässt sich schnell klären. Das Wort Bajan klingt nicht nur nach osteuropäischen Barden, es hat tatsächlich seinen Ursprung bei den wandernden Musikern und bezeichnet heute ein Instrument. Das Bajan ist die osteuropäische Form des Knopfakkordeons und es teilt sich mit dem Bandoneon das Konstruktionsprinzip der in einem Stimmstock zusammengefassten Stimmenplatten. Dass das Bajan zum Tango kommt, hat einen Grund, und der heißt Valeri Funkner. Der gebürtige Ukrainer wuchs im Altai auf und siedelte im Alter von 15 Jahren in die ehemalige DDR um, wo er an der Hochschule für Musik in Weimar Akkordeon und Plektrumgitarre studierte. Als Akkordeonist spielte er neben russischer Folklore, Chanson und Theatermusik in einigen Kammer- und Sinfonieorchestern mit, u.a. mit dem MDR Sinfonieorchester, der Oper Leipzig und der Musikalischen Komödie Leipzig. Parallel dazu befasste er sich mit der Musik von Astor Piazzolla, was schließlich 1998 zur Gründung des Quintetts 'Tango nuevo' und der Realisierung des Projektes Hommage á Piazzolla führte. Da war die Tanzszene in den sächsischen Städten gerade erst am entstehen und noch sehr überschaubar. Im Ergebnis eines Workshops für Musiker bei den 2. Leipziger Tangotagen im Jahr 2002 entstand dann das Orchester 'Abriendo y Cerrando', dessen Gründungsmitglieder Anja Bartsch und Valeri Funkner bis heute das Orchester prägen. An dieser Stelle ziehe ich das erste Mal den Hut. Ein Orchester mit zeitweise bis zu 18 Personen über zehn Jahre am Leben zu halten, Künstlern wohlgemerkt, die noch nicht einmal alle in der gleichen Stadt leben, das ist schon in organisatorischer Hinsicht eine Leistung für sich. Dazu kommt: Sie spielen oft für wenig mehr als die Freude am Spielen, nicht weil die Musik nicht mehr wert ist, sondern weil die meisten Veranstalter auch bei vollem Saal einer mehr als zehnköpfigen Band kein lebenserhaltendes Honorar zahlen können. Die Idee zur Gründung des Orchesters hatte die Pianistin Anja Bartsch, die nach zwei Jahren Jazzstudium in Rotterdam Weltmusik studierte und von dort mit einem Bachelor für Tango nach Sachsen zurückkehrte. Sie schreibt die Arrangements für das Orchester. Der erste Spielort des Orchesters war die Tangofabrik in Plagwitz, ein Tangojuwel vergangener Zeiten. In der Tangofabrik spielte das Orchester regelmäßig, bis es wegen dessen Schließung erst ins Kulturbundhaus und dann ins Ring-Cafe umzog und dort die Idee des Leipziger Montags-Tango am Leben erhielt. Darüber hinaus ist das Orchester zu den verschiedensten Anlässen deutschlandweit aufgetreten, u.a. auf einer Konzert-Tournee Piazzolla meets Jazz mit dem Chor 'Semiseria' im Französischen Dom Berlin und im Landestheater Tübingen. Das Konzert von 'Abriendo y Cerrando' zu den 12.Tangotagen Leipzig findet in der Schaubühne Lindenfels statt: Mit der Vorstellung vom einem klassischen Tanzorchester angereist, bin ich nach kurzer Zeit hinund her gerissen. Das ist ganz sicher kein gewöhnliches Tanzorchester. Die Musiker beschreiben sich selbst als offen für viele Richtungen des Tango, als experimentierfreudig und interessiert an grenzüberschreitenden Projekten – und das lässt sich an den verschiedenen gemeinsamen und auch Solo-Projekten der Musiker ablesen. Das Orchester hat einen hohen musikalischen Anspruch und ein enormes Klangvolumen, und das Spektrum reicht von klassischen Tangos über Piazzolla bis zu Adaptionen von 'Gotan Project'. Die Vielfalt und der musikalische Reichtum ist die Stärke des Orchesters und vielleicht auch seine Schwäche, denn es ist sicher sehr schwer, so vielen verschiedenen Ideen von Tango gleichermaßen gerecht zu werden. Die Musik Piazzollas ist diejenige, welche das Orchester kongenial umsetzt; sicher auch, weil die meisten Musiker des Orchesters wohl eher eine klassische Ausbildung haben. Das erleichtert es möglicherweise, Piazzollas schweren Identitätskonflikt zwischen Tango und Klassik, aus dem seine geniale Synthese erwuchs, nachzuvollziehen. Die Adaptionen der Tango-Nuevo-Stücke sind mit großem Engagement gespielt, aber der Sound mit den vielen Streichinstrumenten und Schlagzeug ist zumindest gewöhnungsbedürftig. In den Arrangements der Tangos aus der klassischen Zeit fehlt mitunter etwas die Schärfe und Präzision des Argentinischen Tango, die Musik klingt europäischer. Die tieferen Streichinstrumente nehmen den im Klang sowieso etwas weicheren Knopfakkordeons die Präzision und Härte. Das Bajan selbst wird von Valeri Funkner und den beiden anderen Bajanisten Eduard Funkner und Viviane Chassot sehr vielfarbig gespielt – und die Möglichkeiten scheinen enorm, besonders in den Soli: Ich höre manchmal den Klang des Bandoneons, manchmal den des Akkordeons als Folkloreinstrument, denn denke ich, gleich wird jemand finnisch zu singen beginnen. Dass Tango ein lebendiges Etwas, ein fortdauernder Prozess ist, das wird mir sehr bewusst, während ich zuhöre – und jeder findet etwas anderes darin… Regelmäßig nimmt das Orchester an den Tangotagen Leipzig teil und organisiert Workshops für professionelle und nichtprofessionelle Musiker, die am Tango interessiert sind. So auch in diesem Jahr. Der Auftritt der am Workshop teilnehmenden Musiker im Konzert auf der Schaubühne Lindenfels war für mich und wohl auch für den größeren Teil des Publikums der Höhepunkt des Abends. Zwei Bandoneons, zwei Akkordeons, zwei Violinen und eine Flöte kommen noch zusätzlich auf die Bühne. Der Tango El Andariego und die Milonga Payadora – beide Arrangements werden klassisch, straff und mit viel Freude und jener gewissen perfekten Unperfektion gespielt, die den Tango zum Tango machen. Und das nach knapp zwei Tagen Workshop mit den Teilnehmern… da ziehe ich noch einmal den Hut. 'Abriendo y Cerrando', das ist der typische Zug und Druck vom Blasebalg des Bandoneons und natürlich auch des Bajans. Wer dabei zusehen und zuhören oder natürlich auch tanzen möchte, der kann in das Neue Schauspiel gehen, wo das 'Tango Orchester Leipzig' nun seine neue Heimat gefunden hat und einmal im Monat montags zu Session und Milonga einlädt. Hoffentlich für noch einmal zehn Jahre. |
Roberto Navarro - Nachruf (Tangodanza, im Heft Juli/August/September 2012) |
Am Dienstag, dem 22. Mai 2012, endete das Leben von Roberto Navarro in Leipzig. Der begnadete Tangopianist war seit längerem erkrankt. Das letzte Konzert seiner gerade laufenden Tournee fand zu den Tangotagen in Leipzig statt. Zusammen mit Fernando Rezk am Bandoneon und der Leipziger Sängerin Claudia Wandt spielte er in der Schaubühne Lindenfels. Roberto Navarro stammte aus der Stadt Concordia in der Provinz Entre Rios im Norden Argentiniens, an der Grenze zu Uruguay gelegen. Er lebte und arbeitete 30 Jahre lang in Bariloche in Patagonien als Architekt, aber auch als Musiker und Schriftsteller. Erst in einem Alter von über 50 Jahren gelang es ihm, sich ausschließlich dem zu widmen, was er immer machen wollte: Musik! Er initiierte mit großer Offenheit zahlreiche Projekte mit verschiedensten Musikern wie zum Beispiel Claudio Chehebar an andinen Blasinstrumenten, spielte in einem Klavier-Saxophon-Duo mit der jungen Musikerin Yanina Nantuano, mit seiner Ehefrau Ilka Vierkant, mit der Leipziger Sängerin Claudia Wandt, mit dem legendären Geiger Ramiro Gallo… Die Bezeichnung ‚Maestro’ lehnte er trotzdem für sich ab, zu sehr verstand er sich als Lernender. Seit 2006 lebte Roberto Navarro in Toulouse, seine Konzert-Tourneen und seine Lehrtätigkeit führten ihn oft nach Deutschland. Er war hier wie da sehr beliebt: als Künstler, als Lehrer, als Mensch. Was bleibt ist seine zauberhaft leichte Musik: Wenn, wie Kafka sagte, die Kunst eine Axt für das gefrorene Meer in uns ist, dann war Roberto Navarro ein großer Künstler. Die ihn nicht kannten, können es in seinen uns zurückgebliebenen Aufnahmen hören. |